In einem über 90 Minuten spannenden Match siegte der belgische Meister FC Brügge am Dienstagabend (28.09.21, 21 Uhr) mit 1:2 beim deutschen Vizemeister aus Leipzig. Philippe Clements Club Brugge reiste mit einem Erfolgserlebnis nach Leipzig, denn man konnte zwei Wochen zuvor dem Starensemble von Paris SG ein Unentschieden abringen. Leipzig wiederum konnte zwar in der Liga mit einem 6:0-Sieg über Hertha BSC Selbstvertrauen tanken, in der Champions League verlor Jesse Marschs Mannschaft jedoch gegen Pep Guardiolas Manchester City mit 6:3.
In einem sehr schnell geführten Spiel konnten insgesamt nur wenige Hochkaräter herausgearbeitet werden. Trotz deutlich größeren Ballbesitzanteilen (66 % – 34 %) erarbeitete Leipzig sich kaum Chancen. Brügge lauerte schon früh auf Konter und schnelle Angriffe und konnte so mehrere und bessere Möglichkeiten herausspielen. Leipzig gab zwar mehr Schüsse ab (14 – 8), jedoch war deren Qualität schwächer als die der Belgier, was in einem expected Goal-Wert von 1,2 : 1,7 endete.
Leipzigs Ballbesitzspiel
Leipzigs Spielaufbau war über das gesamte Spiel sehr variabel. Wenn man nicht aus der Grundformation begann, ging meist Rechtsverteidiger Mukiele weit nach vorne und reihte sich in die Offensivkette ein. Linksverteidiger Klostermann, der auch als Rechts- sowie Innenverteidiger spielen kann, rückte zur Dreierkette ein. Dadurch entstand ein asymmetrisches 3-2-4-1. Da Brügge den Leipzigern vor allem in der ersten Halbzeit sehr wenige Räume anbot, um ihre Offensivspieler einzubauen, ließ sich häufig einer der ursprünglichen Dreier-Offensivkette etwas fallen, um eine zusätzliche Anspielstation zu bieten. Alternativ zum Dreieraufbau über Klostermann konnte auch Kampl in die Abwehr zurück rücken. Die Offensivspieler wurden durch den aufrückenden Mukiele sehr ins Zentrum gedrückt.
Leipzig war sichtlich bemüht, das aktive Pressing der Brügger zu überspielen, doch diese rückten selten zurück. Brügge trat mit einer sehr hohen Defensivreihe an, vor der ein Dreiermittelfeld verteidigte. Vor allem gegen den Dreieraufbau war es Sechser Balanta, der den fünften Offensivspieler der Leipziger übernahm, denn Brügge verteidigte sehr mannbezogen und in eigentlich jeder Position in einem 1 gegen 1. Einzig wenn aus der Viererkette aufgebaut wurde, war mit Balanta ein freier Defensivspieler übrig, der vor allem die zurückfallenden Spieler aus der Offensivkette übernahm.
In der Defensive bedeutete das, dass man weder schnelle Spieler wie Nkunku, noch physische Spieler wie Poulsen doppeln konnte, was aber durchweg gut funktionierte. Vor allem in der ersten Halbzeit kam Leipzig kaum zu Abschlüssen. Nur drei Schüsse, davon einer aufs Tor, stehen in der Statistik. Die disziplinierte Defensivarbeit der Brügger wurde unterstützt von sehr hektisch und unsauber agierenden Leipzigern. Nur 76 % der Pässe fanden den Mitspieler. Mit langen Pässen war man sogar nur zu 24% erfolgreich. Nur 26 % der eigenen Ballaktionen fand im gegnerischen Spielfelddrittel statt. Vor allem in der ersten Halbzeit bekam man kaum Zug nach vorne, was bedeutend dadurch belegt wird, dass der zur Halbzeit eingewechselte Haidara in 45 Minuten doppelt so viele progressive Pässe (12) spielte wie der zweitbeste Leipziger – über 90 Minuten (Nkunku, 6).
Wenig überraschend resultierte auch das einzige Tor des Bundesligisten nicht aus einem herausgespielten Angriff, sondern war die Folge eines Fehlers im Aufbauspiel der Belgier. Da Torwart Mignolet eigentlich ein sehr sauberes Spiel über lange Bälle vorzuweisen hat und so im Spiel den ein oder anderen Angriff (bspw. 21. Minute) einleiten konnte, rückte Brügge bei einem Freistoß (5. Minute) zentral in der eigenen Hälfte sehr weit auf. Zwischen Mignolet und den vier Offensivspielern Leipzigs waren ausschließlich die beiden Innenverteidiger Brügges zu finden. Der weite Ball war für dessen Mitspieler aber unerreichbar. Klostermann köpfte diesen zu Szoboszlai, der sofort auf die konternden Mitspieler weiterleitete. Während Hendry auf Szoboszlai herausrückte und N’Sokis Abseitsfalle misslang, konnte Balanta zwar auf den angespielten Forsberg aufholen, doch von der anderen Seite sprintete Nkunku Sobol davon und konnte an Mignolet vorbei das Tor erzielen.
Club Brugges Konterspiel
Einen sortierten Spielaufbau der Brügger gab es nur selten. Meist war man sehr fokussiert darauf, den Ball schnell aus der Gefahrenzone zu bringen. Lange Befreiungsschläge oder direkte Kontersituationen waren das Mittel der Wahl. Gab es doch ruhige Ballbesitzphasen, wurde meist versucht, die Flügelspieler Lang und Sowah in Situationen zu bringen, in denen sie ihre individuelle Klasse am Ball ausspielen können. Das gelang jedoch eher selten. Das erfolgreichere Mittel für Offensivaktionen waren schnelle Konter und Schnittstellenpässe in Richtung de Ketelaere, der diese dann über Cutback-Pässe in die gefährlichen Bereiche des Strafraums spielte.
Hierfür setzte man vor allem auf Pressing. Nach dem Verlust von langen Befreiungsschlägen attackierte man sofort den Ballführer, schnitt dessen Passwege ab und spielte nach Ballgewinn dann sofort nach vorne.
Mit diesem Muster begann man von Beginn an und gab es nie auf. So zu sehen bspw. in der zweiten Minute, als Rits und Mata den Passempfänger Szoboszlai attackierten. Vorher hatte Orban einen langen Ball in dessen Richtung geköpft. De Ketelaere, der eben noch das Kopfballduell gegen Orban verloren hatte, setzte sich ab und zog nach einem Schnittstellenpass zwischen IV und LV zum tiefen Lauf an. Der Querpass auf den mitgelaufenen Lang wurde zwar abgefangen, doch damit setzte Brügge früh ein Zeichen: Verliert ihr den Ball, werden wir gefährlich.
Auch wenn Leipzig aus ruhigem Spiel eröffnete, lauerte Brügge auf Konterchancen. Immer wieder öffneten die Belgier Pressingfallen, die meist bei Sechser Balanta endeten. Ganze 20 Zweikämpfe führte er über 90 Minuten. Er gewann zwar nur die Hälfte (6/16 am Boden), jedoch wurde es dann meist gefährlich. Konnte Balanta den Ball nicht erobern, zog er notfalls ein Foulspiel, um das Offensivspiel der Leipziger nicht aufblühen zu lassen. Auch Vanaken konnte mit 17 geführten Zweikämpfen (7/11 am Boden) immer wieder wichtige Ballgewinne in Kontersituationen umwandeln.
In der elften Minute konnte de Ketelaere durch gutes Stellungsspiel beim Anlaufen Simakans einen Pass auf den zurückfallenden Nkunku erzwingen, der sich sogleich in starker Bedrängnis fand. Von vorne attackierte Balanta, von hinten schlossen Sobol und N’Soki das Pressingdreieck. N’Soki eroberte den Ball und spielte ihn sofort nach Linksaußen auf Lang, der dort als einziger Brügger keine Manndecker-Aufgabe zu erledigen hatte. Wie zuvor setzte sich de Ketelaere im Rücken des Innenverteidigers ab und konnte tief angespielt werden. Simakan fing de Ketelaere zwar noch ab, doch der Fokus von Leipzigs Innenverteidigern lag komplett bei ihm. Ein tiefer Lauf von Sowah beschäftigte LV Klostermann. Dies ermöglichte einen Cutback-Pass auf Brügges Vanaken, der zuvor noch Mukiele bis auf Höhe der eigenen Abwehrkette begleitet hatte, dann aber schnell umschalten konnte.
Dieses Muster funktionierte das ganze Spiel sehr gut, vor allem in der ersten Halbzeit konnte man so zu insgesamt 6 Abschlüssen kommen. Auch das erste Tor Brügges in der 22. Minute fiel in dieser Form.
Vanakens Pressing auf Torhüter Gulacsi führt zu einem Ballgewinn der Brügger, den Balanta hinter die Abwehrkette schlägt. De Ketelaere lauerte bereits darauf und konnte den Ball erlaufen. Simakan versuchte, ihn zu stellen, wurde jedoch ausgedribbelt. Wieder lief Sowah weit ein und zog einen Gegenspieler und die Aufmerksamkeit auf sich. Innenverteidiger Orban, der nur im freien Raum steht, schaut ausschließlich zum Ball. Vanaken, zuvor noch Pressingspieler gegen Gulacsi, ließ sich zunächst in den Rückraum fallen, um keine Aufmerksamkeit zu generieren. Erst als der Fokus der Abwehr komplett auf de Ketelaere und Sowah liegt, zieht er ebenfalls in den Strafraum – komplett frei. Das Anspiel von de Ketelaere muss er dann nur noch ins freie Tor einschieben.
Brügge kreiert Aufmerksamkeit, wo sie sie haben wollen – und sie verstecken sich vor Aufmerksamkeit an Stellen, an denen sie Spieler freispielen wollen. Gleich doppelt funktionierte dieses Muster beim zweiten Tor der Brügger, bei dem zunächst wieder Vanaken und dann Torschütze Rits abseits der Aufmerksamkeit der Leipziger Defensive die entscheidenden Räume anlaufen konnten.
Wieder war es ein Schnittstellenpass, der die ganze Situation einleitete – diesmal auf Lang, der einen diagonalen Lauf nach Rechtsaußen startete. Alle sieben Verteidiger der Deutschen richteten ihren vollen Fokus auf das, was Lang mit dem Ball machen würde. Spannend: In der Mitte nahmen Mukiele und Laimer zwar beide wahr, dass sich Vanaken in deren Rücken befand, jedoch zeigten beide gleichermaßen auf ihn. Beide gaben das Kommando an den Mitspieler, Vanaken zu decken. Im Ergebnis kümmerte sich dann keiner um ihn. Lang schickte Mata den 16er entlang, der flankte über alle Leipziger hinweg. Mukiele, der nun bemerkte, dass Vanaken keinen Gegenspieler hatte, konnte nur noch den Körper dazwischen stellen, das Abspiel von Vanaken aber nicht mehr verhindern. Die Flanke und das plötzliche Freistehen Vanakens schien die Leipziger Defensive so sehr zu überfordern, dass wieder der komplette Fokus dort landete. Durch diese Aufmerksamkeitsverschiebung läuft Rits nun im Rücken von gleich drei Leipzigern in einen Korridor, von dem aus er den Cutback-Pass von Vanaken im Tor versenken kann. Im ganzen Ablauf des Angriffs führte Leipzig keinen einzigen Zweikampf. Ein Sinnbild davon, wie Philippe Clements Offensivspiel den Gegner und dessen Aufmerksamkeit manipuliert.
Taktische Anpassungen Leipzigs
In der zweiten Halbzeit reagierte Leipzig und brachte DM Haidara und LV Gvardiol für Laimer und Mukiele, Klostermann wechselte nach rechts. Dadurch bekam das Aufbauspiel der Leipziger etwas mehr fußballerische Qualität und das Offensivspiel wurde symmetrischer. Auch die Offensivreihe der Leipziger agierte jetzt etwas breiter. Dies führte dazu, dass man die ersten 10min nach der Halbzeit viel Ballbesitz am gegnerischen Strafraum hatte und immer mehr zu Fernschüssen kam. Den entscheidenden Durchbruch konnte man jedoch nicht erzielen.
Um diesen zu bewerkstelligen, brachte Trainer Jesse Marsch mit Silva einen zweiten Mittelstürmer. Forsberg übernahm die Linksaußen-Position des ausgewechselten Szoboszlai. Das System glich jetzt mehr einem 4-2-2-2 oder sogar 4-2-4. Mit sehr hoch geschobenen Außenverteidigern erzeugte man viel Druck auf die Abwehrkette der Brügger. Diese hatte in der gespielten Manndeckung viele Bewegungen zu verfolgen oder Spieler zu übergeben. Der erfolgreichste Moment dieser Neuausrichtung ist in der 77. Minute zu finden. Ein Chipball hinter die Kette fand Nkunku, doch Mignolet kam gut raus und konnte den Lupfer Nkunkus parieren.
Philippe Clements Reaktion
Da Brügges Viererkette schon vor Leipzigs Umstellung häufig in 1 gegen 1-Situationen war, musste hier keine Anpassung vorgenommen werden. Um die hohen Außenverteidiger zu kompensieren, zog Club-Trainer Clement seine Flügelspieler Lang und Sowah weit zurück. Nachdem Leipzig einmal Gvardiol freigespielt bekam, reagierte Clement auch mit einem personellen Wechsel auf die Situation. Der gelernte Rechtsverteidiger van der Brempt ersetzte Rechtsaußen Sowah, behielt jedoch dessen Position im rechten Mittelfeld. Er brachte mehr Defensivstärke und Verständnis für die Räume rechts neben Mata mit. Letzterer musste mit Forsberg immer wieder Wege ins Zentrum machen. Später bekam der defensivstarke Ricca den Vorzug vor dem offensiveren Maouassa auf der Linksverteidiger Position.
Fazit
Über 90 Minuten hatte Brügge-Coach Philippe Clement auf jede Idee seines Gegenübers Jesse Marsch eine Antwort. Der Dreieraufbau in Kombination mit der Fünfer-Offensivreihe wurde durch den abfallenden Balanta aufgefangen, das später gespielte 4-2-4 mit einem flachen 4-4-1-1 abgeblockt. Dazu gab Clement seinen Spielern das taktische Knowhow an die Hand, die Aufmerksamkeit der Leipziger Verteidiger gezielt zu lenken und dann in unbeachtete Räume vorzustoßen, um gefährliche Konter zu setzen und Spieler im Strafraum freizuspielen. Mit einem Abseitstor von Lang (71.) hätte das Ergebnis sogar deutlicher für Brügge ausfallen können. Leipzig spielte zwar selbst einen guten Konter zu Ende, konnte jedoch weder zwei weitere noch ihre eigenen Spielideen durchbringen.
Autor: Nik Staiger (Twitter @Nik_Staiger)